z. B. Bettina Wegner


Bettina Wegner im Westen

Wie alle aufrechten DDR-Künstler, so protestierte Bettina Wegner 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns. Aber erst 1983 war auch sie so weit, dass sie in den Westen ging.

Wie bei Biermann und vielen anderen Oppositionellen spüre ich auch bei ihr, dass ihre wahre Rolle untrennbar mit den Bedingungen in der DDR verknüpft war. Doch anders als bei anderen finde ich das, was im Westen aus ihr wurde, zwar traurig, aber nicht tragisch.

Denn anders als andere hätte sie durchaus das Zeug gehabt, für sich eine andere Rolle zu finden.

Was stand bei ihr auf der Habenseite?

Eine einmalige Stimme. Eine Stimme, die sie, wenn sie gewollt hätte, zu einer der wahrhaft großen Sängerinnen ihrer Zeit hätte machen können, vergleichbar einer Edith Piaf, Amalia Rodrigues oder Janis Joplin.

Was fehlte ihr?

Im Grunde nichts als die Erkenntnis ihrer Schwächen, und der ernsthafte Versuch, diese auszumerzen: Ihre Schwäche als Lyrikerin, als Komponistin, als Gitarristin. Aber auch ihre Unfähigkeit, die eigene Stimme, dieses grandiose Himmelsgeschenk, zu modulieren, zu beherrschen, als Werkzeug adäquat einzusetzen.

Über Musik und Begleitung muss man nicht viele Worte verlieren. Die meisten ihrer Kompositionen waren einförmig bis zum Gehtnichtmehr. Ihr Gitarren-Geschrammel, das selten mehr als drei Akkorde umfasste, war nervend. Weil aber die Komposition so einfallslos war, änderte auch die Zusammenarbeit mit einer Band nicht viel an der musikalischen Eintönigkeit fast aller ihrer Lieder.

Doch am schlimmsten war ihre Schwäche als Lyrikerin. Genauer gesagt, die Schwäche ihres Denkens und Formulierens, ihrer Bilder und Vergleiche. Die nämlich waren oft platt oder konfus, und das um so mehr, als der Reimzwang sie zusätzlich verbog und verdrehte. In der DDR war das weitgehend egal. Da waren die Mängel und Mißstände so bedrückend, dass jede Äußerung dagegen willkommen war, selbst wenn sie noch so simpel und sprachlich verunglückt daherkam. Trotzdem hätte Bettina Wegner mit etwas Selbstkritik feststellen müssen, dass ihre Sätze oft kindlich banal, ihre Bilder schief waren. Als Texterin war sie selber ihre allergrößte Feindin. Sagte ihr das niemand?

Wahrscheinlich war es ein Unglück, dass ausgerechnet bei ihrem berühmtesten Lied – "Sind so kleine Hände" – die kindliche Naivität, mit der sie schrieb und reimte, zum Inhalt des Liedes passte. So wurde sie mit diesem Lied identifiziert, und auch sie selber identifizierte sich offenbar damit. Das ließ sie glauben, ihre Texte wären irgendwie doch passabel. Waren sie aber nicht.

Immer wieder fühlt man sich bei ihr an Friederike Kempner erinnert, dieses Genie der unfreiwilligen Komik, die Verse schrieb wie:

Amerika, Du Land der Träume,
Du Wunderwelt so lang und breit,
Wie schön sind Deine Kokosbäume,
Und Deine rege Einsamkeit!

Oder:

Besessen ist die Welt
Von Eigennutz und Geld,
Und alles zum –
Verzweifeln dumm!

So ähnlich Bettina Wegner, etwa in ihrem Lied Ich will nicht:

Will nicht sein
was ich sein soll
nur ich selber
und das ganz doll.

Oder im Lied Über Gebote:

Wasserpredigt - Weingelage, so stehn die Gesetze
Und wer heut Moral noch fordert, ruft schon auf zur Hetze
Darum sah ich mich gezwungen, eigne mir zu schaffen
Zehn Gebote für mein Leben als die letzten Waffen:

Aufrecht stehn - wenn andre sitzen
Wind zu sein - wenn andre schwitzen

Lauter schrein - wenn andre schweigen
Beim Versteckspiel sich zu zeigen

Nie als Andrer zu erscheinen
Bei Verletzung nicht mehr weinen

Hoffnung haben beim Ertrinken
Nicht im Wohlstand zu versinken

Einen Feind zum Feinde machen
Solidarität mit Schwachen

Und ich hab sie nie gebrochen bis auf ein Gebot:
Bei Verletzung wein ich manchmal, was ich mir verbot.

Schauderhaft. Hier stimmt gar nichts. Nicht die Gedanken, nicht die Bilder, nicht die Sätze, nicht die Wörter. Sie behauptet, sich über die Regeln hinwegsetzen zu wollen, die andere ihr auferlegen – und befolgt doch sklavisch die Regel, dass ihre Hoppelverse sich reimen müssen. Bloß weil eine Zeile auf soll endet, will sie nicht nur sie selber sein, sondern das auch noch ganz doll. Zum Schießen.

Jesus predigt auf einem Berg, das ist die Bergpredigt, was also ist eine Wasserpredigt? Ach so, sie meint: Wasser predigen, Wein trinken. Aber das ist doch gerade kein Gesetz, sondern nur üblich, und selbst wenn es ein Gesetz wäre, würde das nicht so stehen, sondern es würde höchstens im Gesetz stehen.

Dann, sah ich mich gezwungen: Amtssprache pur. Und Gebote als letzte Waffen? Wieso denn Waffen – ist nicht eher eine Art Schutzwehr gemeint? Und warum die letzten Waffen – müssten Gebote nicht im Gegenteil als Maximen an erster Stelle stehen?

Im Grunde lässt sich das ganze Elend der Dichterin Bettina Wegner aus diesen drei Wörtern “die letzten Waffen“ herauslesen. Wie das ganz doll ihres Entschlusses, sie selber zu sein, so kommen auch die Waffen nur daher, dass sie einen Reim auf schaffen braucht. Nun ist da aber leider der Versrhythmus, und der möchte vor den "Waffen" gerne noch drei Silben haben. Außerdem spürt sie wohl, dass "Gebote als Waffen" nicht ganz das ist, was sie eigentlich sagen will. So fügt sie die letzten ein und hat damit erstens den Rhythmus passend gemacht. Zweitens hat sie die Waffen entschärft, da doch die letzten Waffen nur im Notfall eingesetzt werden. Dass sie damit das Bild vollends konfus macht, merkt sie nicht. Denn wie gesagt: sollten Gebote nicht gerade das sein, was man immer befolgt?

Das sind Bettina Wegners Texte in einer Nußschale: alles ist ehrenwert, alles ist gut gemeint, aber nichts ist durchdacht, nichts sauber formuliert. Auch das unsägliche Wind zu sein, wenn andre schwitzen ist einzig geboren aus dem Zwang, einen Reim auf sitzen zu finden. Aber schon das ist ein falsches Bild, denn das Gegenteil vom aufrechten Stehen ist doch nicht das Sitzen, sondern das Verneigen – ganz davon abgesehen, dass sitzen auch angesichts der Freunde im Knast unpassend war, und der Wind an ganz andere Winde denken ließ ... dabei hätte es nur ein bisschen Nachdenken gebraucht, und das Bild hätte gestimmt:

Aufrecht stehn, wenn andre sich verneigen
Lauthals schrein, wenn alle andern schweigen

Aber da hätte sie, vom Versrhythmus abgesehen, für die anderen Gebote neue Bilder und neue Reime finden müssen. Und das war ihr wohl zu mühsam.

Oder das seltsame Gebot Beim Versteckspiel sich zu zeigen. Was um Himmels willen meint sie? "Versteckspiel" ohne Kontext (zumal mit dem bestimmten Artikel in "beim" = "bei dem") ist nun einmal nur das, was das Wort besagt: ein Spiel unter Kindern, bei dem gewinnt, wer zuletzt gefunden wird; und wer da einfach aus seinem Versteck herauskommt, tut nichts Heldenhaftes, sondern macht das Spiel kaputt. Aber das meint sie natürlich nicht. Sondern sie meint, dass der größte Teil der Menschheit sich im Umgang miteinander verstellt, die wahren Gedanken und Gefühle versteckt, und dabei will sie nicht mitmachen. Auch das also gut gemeint, aber grässlich formuliert.

Oder Hoffnung: dieses ruhige, stärkende Gefühl ausgerechnet beim Ertrinken, dem hektischsten nur denkbaren Zustand? Rasende Todesangst, wildes Herumzappeln, ultimative Verzweiflung? Bei ihr wohl nicht, sondern offenbar ein Dauerzustand oder eine häufig wiederholte Übung, so dass sie sich dafür extra ein Gebot macht.

Oder, Rätsel über Rätsel, einen Feind zum Feinde machen. Wieder meint sie es gut. Wieder ist ihr Gedanke ehrenhaft, aber sie formuliert ihn komplett verdreht. Gemeint ist offenbar eine spezielle Form von besagtem Versteckspiel: die meisten Leute versuchen, feindliche Gefühle möglichst zu verbergen – nur sie, Bettina Wegner, will auch hier offen sein, will nicht nur Liebe und Freundschaft unverhüllt zeigen, sondern eben auch Feindschaft. Aber ein Feind ist nun mal ein Feind, und dadurch, dass sie ihr Gefühl zeigt, macht sie ihn doch nicht zum Feind, sondern höchstens noch mehr als er es ohnehin ist.

Wobei sich natürlich gerade in der DDR die Frage stellt, wen sie eigentlich meint. Parteibonzen, Funktionäre, Stasi? Oder etwa Leute in ihrer Umgebung? Falls sie letzteres meinte, sollte sie vielleicht über die Maxime von Baltasar Gracian nachdenken: Behandle deine Freunde, als ob du sie morgen zum Feind, und deine Feinde, als ob du sie morgen zum Freund hättest.

Aber das ist ihr Dilemma: sie denkt nicht nach. Sie spürt den Worten nicht nach, die ihr da hopplahopp einfallen. Sondern sie kritzelt sie krumm und schief aufs Papier, und dann eilt sie hektisch zum nächsten krummen Bild, zum nächsten schiefen Vergleich.

Zwar waren auch die Texte von Renft, Pannach, Karat oder den Puhdys nicht immer das Gelbe vom Ei. Sogar Biermann unterliefen im Reimzwang gelegentlich Fehlgriffe, etwa wenn er in "Die hab ich satt" über die Professoren singt: "die manches wirklich besser wüssten / wenn sie nicht täglich fressen müssten". Aber dass gutgemeint das Gegenteil von Kunst ist, zeigte sich nirgends so deutlich wie bei Bettina Wegner. Die wollte ganz doll sie selber sein – und reihte dabei in ihren Texten ein falsches Bild ans andere.

Doch diese Platt- und Schiefheiten röhrte sie mit ihrer umwerfenden Klagestimme, als wären es Schlüsselsätze, um alles Leid der Welt in seiner tiefsten Tiefe zu begreifen und zu bejammern. Für einen Außenstehenden musste der Kontrast zwischen der Dramatik des Gesanges und der Plattheit der Texte umwerfend komisch klingen. Für mich war es nur traurig. Dass Bettina Wegner selber das nicht merkte – oder dass es ihr keiner sagte – war mir immer unbegreiflich.

 

Ihr Verhängnis war, dass sie aus falschem Ehrgeiz vor allem Liedermacherin sein wollte. Vielleicht fühlte sie sich sogar als Dichterin. So verfehlte sie ihre wahre Berufung als Sängerin.

Hier komme ich noch einmal auf die Bemerkung zurück, Bettina Wegner sei als Sängerin da groß, wo sie trauern könne. Das war im Prinzip richtig. Und es hätte ja durchaus ihr Markenzeichen sein können, so ähnlich wie bei Juliette Greco die schwarzen Kleider und das Armgefuchtel. Aber dann hätte sie darauf achten müssen, dass die Lieder, die sie vortrug, zu diesem Gestus der Trauer gepasst hätten. Doch als Liedermacherin beharrte sie darauf, vor allem ihre eigenen Schöpfungen zu singen. Und da stand ihre hochdramatische Vortragsweise immer wieder im Kontrast zur Plattheit ihrer Texte.

Ich bin aber nicht der Meinung, dass sie für alle Ewigkeit auf den hohen Ton der Trauer hätte festgelegt bleiben müssen. Ein guter Lehrer hätte sie schnell dahin gebracht, einen neutralen Grundton zu finden, von dem aus sie ihre Stimme in Richtung Besinnung und Heiterkeit ebenso hätte modulieren können wie in Richtung Dramatik und Trauer.

Allerdings hätte sie sich von dem Ehrgeiz lösen müssen, vor allem Liedermacherin und Dichterin sein zu wollen. Stattdessen hätte sie ihre Rolle als Sängerin begreifen müssen. Dafür aber fehlten ihr Professionalität, Selbstkritik, Internationalität.

Wobei im Grunde alle drei Dinge zusammengehören. Seine eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen, ist auch die erste Voraussetzung von Professionalität. Gewiss, im Osten hatte sie nicht nur Lieder gesungen, sondern war für zwei Jahre auch eine Schlüsselfigur des politischen Widerstandes gewesen. Aber im Westen?

Sie hätte erkennen müssen, dass ihre tatsächliche Begabung einzig in ihrer grandiosen Stimme lag. Sie hätte begreifen müssen, dass sie ihre Rolle als Freiheitskämpferin und guter Kumpel im Westen nicht weiterspielen konnte, jedenfalls nicht im Musikleben. Sie hätte einsehen müssen, dass es Menschen mit tiefem Sprachgefühl gibt, und dass sie selber dieses Sprachgefühl nicht hatte. Sie hätte sich eingestehen müssen, dass ihre eigenen Texte ebenso wenig taugten wie ihre Nachdichtungen. Dass sie als Komponistin ebenso schwach war wie als Gitarristin. Dass sie sich, als logische Schlussfolgerung, auf nichts stützen konnte als ihre Stimme – höchstens noch auf ihre Fähigkeit, die Qualitäten eines Liedes oder eines Sängers beurteilen zu können.

Sie hätte, in einem Wort, eine ganz neue Laufbahn als Sängerin beginnen müssen. Neue Lieder, alte Lieder, deutsche, englische, französische, jiddische, russische, spanische. Lieder, ins Deutsche übersetzt oder im Original. Nur bitte eines nicht: ihre eigenen. Auch nicht ihre Nachdichtungen. Sondern Lieder von anderen, egal ob schon vorhanden oder eigens für sie geschrieben und komponiert, allerdings arrangiert und begleitet von Profis. Sie selber nur Sängerin – also Dienerin. Dienerin großer Lieder, großer Musik. Nicht als Trauerkloß, sondern so, wie es jedes einzelne Lied verlangt – eben das, was einen großen Sänger, eine große Sängerin ausmacht.

Aber dafür war sie entweder zu eitel oder zu stur. Das hatte sie mit Wolf Biermann gemeinsam, der sich nie wirklich von dem lösen konnte, was er im Osten gewesen war. So wird er zwar immer noch oft eingeladen und interviewt, aber im Grunde stets in der Rolle des gewesenen DDR-Sängers.

Und was die großen Lieder des Erdballs betrifft, so hätte sie schon ein bisschen suchen müssen. Aber weil ihr echte Internationalität fehlte, blieb sie dann neben den jiddischen Liedern und ihren eigenen Übersetzungen immer wieder bei den ausgelutschten Songs der US-Folkszene hängen.

Als ich las, dass Bettina Wegner in der Kreuzberger Passionskirche ihr Abschiedskonzert geben würde, ging ich mit meinem Freund und Nachbarn Reiner hin, um mir das anzuhören. Festzustellen, dass sich bei ihr in 30 Jahren an gesanglichem Gestus, Plattheit der Texte, Eintönigkeit der Komposition und Einfallslosigkeit der Begleitung nur wenig geändert hatte, deprimierte uns. In der Pause gingen wir und ersäuften unseren Kummer in Schnaps und Bier.